Die theoretisch für 2018 geplante vollständige Liberalisierung des Strommarktes scheint unvermeidbar, um ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union zu erzielen. Andererseits besteht die Gefahr, dass sie zu niedrigen Preisen führt, ohne lokale erneuerbare Energien wie die Wasserkraft optimal nutzen zu können. Akteure der Branche und Politiker sind daher in dieser Frage weiterhin geteilter Meinung. Dies ergibt sich aus der politischen Diskussionsrunde, die im Rahmen des 5. nationalen Thementages Smart Energy in Sitten organisiert wurde.
Die Energiestrategie 2050 hat für das Bundesparlament weiterhin Priorität, so Nationalrat Yannick Buttet. „Eine vollständige Liberalisierung des Marktes im Jahr 2018 erscheint sehr optimistisch, denn Widerstand regt sich ebenso im linken wie im rechten Spektrum. Zugleich haben wir letztendlich nicht die freie Wahl, uns für diese Liberalisierung zu entscheiden, wenn wir ein Stromabkommen mit der Europäischen Union erzielen wollen.“
Genf sagt „nein“, die Grünen „ja, aber …“
Adèle Thorens, Nationalrätin und Co-Präsidentin der Grünen Partei der Schweiz, ist der Ansicht, dass die Liberalisierung notwendig ist, allerdings nur langfristig. „Die entscheidende Frage ist das Timing. Markt und Wettbewerb können interessante Hebel sein, um die Energiewende zu beschleunigen, die für uns die zentrale Herausforderung ist.“ Derzeit sind die Rahmenbedingungen nicht erfüllt, damit die Liberalisierung die Energiewende begünstigt. Damit die Liberalisierung funktionieren kann, ist Kostenwahrheit erforderlich, vor allem für die Kernkraft. Für diese Energie werden die Abfallbehandlung und die Stilllegung derzeit nicht in der Kostenkalkulation erfasst.
Genf sagt „nein“ zu einer vollständigen Liberalisierung, so Gilles Garazi, Leiter des Bereichs Energiewende bei SIG. Die externen Kosten müssen in die Kalkulation aller Energieformen einbezogen werden. Der Bau von Kernkraftwerken ist nicht mehr so rentabel. Unabhängig von der gewählten Alternative wird Energie langfristig teurer werden. In Zeiten der niedrigen Energiepreise müssen die Ärmel hochgekrempelt und die notwendigen Arbeiten durchgeführt werden, um einen geringeren Verbrauch zu erzielen.
Stromversorger in der Frage „gespalten“
Die Stromversorgungsbranche ist im Hinblick auf diese Liberalisierung sehr gespalten, so Jean-Albert Ferrez, Generaldirektor von Energie Sion Région. Seit man dem Schweizervolk eine vollständige Liberalisierung versprochen hat, haben sich viele Dinge geändert. Muss das Versprechen unbedingt gehalten werden – oder ist eine Neubewertung der Situation erforderlich? Die Frage bleibt offen.
Allgemein bedeutet die vollständige Marktöffnung, dass der Preis das einzige Kriterium für die Wahl der Energieformen ist. „Dies ist nicht das beste Mittel, um unsere Energien zu unterstützen“, stellt Jean-Albert Ferrez klar. Einer der für die Liberalisierung vorgebrachten Vorteile ist es, Druck zur Senkung des Energiepreises auszuüben. „Diese Preissenkung ist schon wirksam, denn der Markt hat bereits dafür gesorgt.“
Dieselben Bedingungen für alle
Die Öffnung des schweizerischen Marktes ist eine Vorbedingung für den Zugang zum europäischen Strommarkt, erinnert Paul Michellod, Generaldirektor von FMV. Doch die Mitglieder der EU müssen denselben Bedingungen unterliegen. „Wenn die Liberalisierung nur darin besteht, die europäischen Preise in die Schweiz zu importieren, werden es unsere einheimischen Energien schwer haben, wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Doch die Liberalisierung ist auch eine Chance, die Wasserkraft bei europäischen Verbrauchern, die von den erneuerbaren Energien überzeugt sind, zur Geltung zu bringen.